In der Arbeitsgemeinschaft der “Pfarrsenioren” hält ein erfahrener Kollege einen Vortrag mit zehn Thesen über Albert Camus „Humanität ohne Gott“.
Schon vorher bewegt mich die Veranstaltung. Verschiedene Stadien meiner Beschäftigung mit Werken Camus’ fallen mir ein.
Erstmal wurde ich mit hm konfrontiert durch unseren Schülerpfarrer. 1965 nahm ich an Tagungen teil, die ein gewisser Horst Hirschler (später Landesbischof) anbot. Noch immer staune ich über das Niveau, das er uns Pennälern zumutete. Er war von Camus so angetan, dass wir schon über seine „Camus-Platte“ spotteten. Einige Exemplare seines „Evangelischen Schülerbriefs“ habe ich aufbewahrt. In einem (3/1965) schreibt er, „warum der Christ die Gedanken der Atheisten kennen soll.“ Punkt 5 lautete: „Weil er feststellen kann, dass manche Wahrheit des Glaubens heute von Ungläubigen besser und wirksamer vertreten wird als von den Christen.“
Im 2. Semester belegte ich in Berlin 1967 ein philosophisches Proseminar über Camus’ „Der Mythos der Sisyphos“. Es fand Samstagvormittags (!) statt. (Ein numerus clausus der Bequemlichkeit.) Ich gebe zu: Vielleicht hätte ich den Samstag auch anders verbracht, wenn da nicht eine Studentin dabeigewesen wäre, die einige Semester voraus war und deren Nähe mir wichtig war.
Ich verstand in dem Seminar nicht viel, aber das Problem Selbstmord interessierte mich und der letzte Satz des Essays tröstete mich: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Als dann die Studentenbewegung in eine Gewaltspirale geriet und Marxisten ständig neue Eskalationsstufen erfanden, bewahrte mich Camus vor Menschen verachtender Radikalität. Seine Kritik an allen Totalitarismen gefiel mir. So las ich gern seine Romane, Erzählungen und Theaterstücke. In jenem Jahr erschien auch der Spielfilm „Der Fremde“.
Aber niemals habe ich mir einen Gesamtüberblick verschafft. Das hole ich am Wochenende nach, um mich auf die heutige Diskussion vorzubereiten. Ich lese Iris Radisch, „Camus. Das Ideal der Einfachheit“, Rowohlt 2013.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11.2013:„Unter den drei zu Albert Camus‘ hundertstem Todestag publizierten Biografien preist Rezensent Jochen Schimmang insbesondere Iris Radischs nun unter dem Titel „Das Ideal der Einfachheit“ erschienenes Werk. Der Kritiker lobt nicht nur die Empathie, mit der sich Radisch dem französischen Philosophen nähert, seine beschwerliche Kindheit in Algerien beleuchtet und zwischen Realität und Wunschbild Camus‘ differenziert, sondern ihr gelinge es auch mit „Bravour“ Einträge aus Camus‘ Tagebüchern ganz ohne schematische Zuordnungen mit ihrer Biografie zu verbinden. Darüber hinaus stellt der Kritiker mit Bewunderung fest, dass Radisch auch durchaus noch Neues über den Autor zu berichten weiß: Das „mittelmeerische Denken“ etwa sei keine Erfindung Camus‘ gewesen, sondern kursierte in Algier bereits in den zwanziger Jahren, berichtet der Rezensent. Neben den eindrucksvollen Einblicken in das Leben des Philosophen würdigt Schimmang das Buch auch als gelungene Werkbiografie, die zwar weniger ausführlich als jene von Martin Meyer ist, dafür aber durchaus „dezidierter“. Und so kann der Kritiker dieses brillante Buch als erste oder weiterführende Auseinandersetzung mit Camus nur dringend empfehlen.“
In der heutigen Diskussion sind die Pfarrkollegen schnell bei der letzten These, die sich mit der gegenwärtigen religiösen Situation befasst: „Mit Predigten…, in denen in einer objektivierenden, behauptenden und beschwörenden Weise von Gott gesprochen wird… sind diese Menschen kaum mehr zu erreichen.“ Klar: Theologen müssen über ihre Sprache nachdenken.
Ich bringe zwei andere Aspekte ein, die mich nach der Lektüre dieser Biografie beschäftigen.
1. Für uns Nachgeborene, die wieder mit der politischen Situation Nordafrikas konfrontiert sind, ist es schwer fassbar, dass der geborene Algerier Camus die strukturelle Gewalt des Kolonialismus nicht wahrgenommen und thematisiert hat. Zwar hat er als Journalist das soziale Elend beschrieben, aber die Lebenswelt des einfachen arabischen Menschen hat ihn wohl wenig umgetrieben. Arabisch hat er nicht gesprochen, die koloniale Präsenz Frankreichs hat er bis zuletzt verteidigt, eine algerische Unabhängigkeit wollte er sich nicht vorstellen. Er kritisiert mit Recht die damalige katholische Kirche, aber er kennt wohl nicht die Priester und „Weißen Väter“, die mit den Ärmsten der Armen zusammenleben. Sie riskieren dabei ihr Leben. Sie praktizieren längst eine Humanität mit Gott. Camus muss doch wenigstens den Mönch Charles de Foucauld gekannt haben.
„F. lernte Tamascheq, die Sprache der Tuareg, erstellte ein 2.000 Seiten umfassendes Wörterbuch dieser Sprache und sammelte auf 800 Seiten die Gedichte und Fabeln dieses Volkes. Seine Forschungen zur Literatur und Sprache der Kel Ahaggar zählen noch heute zu den wertvollsten Arbeiten aus der Frühzeit der wissenschaftlichen Afrikanistik. Eine tiefe Freundschaft verband ihn mit Moussa ag Amastan, dem Amenokal (König) der Tuareg, ebenso half er bei der Schlichtung von Streitigkeiten. Mission betrieb Foucauld nicht, sondern widmete sich in seiner kargen Freizeit der eigenen spirituellen Entwicklung.“
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_de_Foucauld
2. Camus’ Umgang mit Frauen finde ich skandalös. Seine ständigen Liebschaften mögen Privatsache sein und drei Geliebte gleichzeitig neben der Ehefrau beweisen zumindest logistische Begabung, aber mit Humanität hat das spätestens dann nichts mehr zu tun, wenn die eigene Frau verzweifelt aus dem Fenster springt. „Im Werk Camus’ gibt es keine Liebe zwischen Mann und Frau, nicht im zeitgenössischen Sinn. Dem Autor fehlen dazu alle Voraussetzungen…In seiner Liebespraxis ähnelt er dem Libertin und dem adligen Lebemann. Das Unglück, das er damit anrichtet, ist ihm nicht gleichgültig. Er betrachtet es jedoch wie ein Schicksal, dem man nicht entkommen kann.“ Radisch S. 151. Einwand eines Kollegen in der Diskussion: „Aber er liebte seine Mutter!“ Ich will ihn nicht auf die psychoanalytische Couch legen, aber sein Mutterkomplex ist unübersehbar. Dass er den Satz geschrieben hat „Außer in der Liebe ist die Frau langweilig“, will nicht einmal seine Tochter glauben. Man muss nicht Feminist sein, um diese Einstellung abzulehnen. Die erscheint so aus der Zeit gefallen wie die ewigen Zigaretten, die sich die Pariser Intellektuellen in den Mund steckten. (Ja, das fanden meine Mitschüler (10. Klasse) so toll, dass sie bei einem Fest einen verqualmten „Existentialistenkeller“ aufbauten.)
Camus hat nicht den Anspruch erhoben ein Heiliger zu sein, nicht einmal ein Vorbild. Aber anregend bleibt er. Deswegen ist es schade, dass er nach der Philosophie des Absurden und der Revolte seinen dritten geplanter Zyklus „Was heißt Liebe und Mitleiden?“ nicht mehr schreiben konnte.
Der oben erwähnte Schülerpastor und Camus-Fan meinte seinerzeit noch, dass dessen Widerspruch gegen die christliche Religion Ergebnis eines schlechten Religionsunterrichts ist.
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