Archiv für den Monat Februar 2016

Mit der Bibel „Augen auf!“

„Augen zu – und durch!“ scheint das Motto gegenwärtiger Politik angesichts schier unüberwindbarer globaler Katastrophen zu sein. Im Kleineren gilt das anscheinend auch für die Kirchenarbeit. Jedenfalls sehe ich zwar in manchen Reden, aber wenig in der Praxis Modelle, die den gegenwärtigen Herausforderungen angemessen zu sein scheinen. Um nun nicht in den Fehler mancher Ruheständler zu verfallen, aus dem Ohrensessel heraus die Arbeit der Jüngeren zu kritisieren, übernehme ich gern Predigten und Bibelarbeiten. Allerdings kann ich mit Gastauftritten das Milieu kaum verändern, in dem sich kirchliches Leben in Deutschland, (genauer: in Württemberg) bewegt.

„Augen auf und durch!“ lautet der Titel der Bibelwoche 2016. An drei Abenden beschäftigen wir uns mit Texten aus dem Sacharjabuch im Alten Testament (AT). Dieser Teil unserer Bibel ist jüngst von dem Dogmatikprofessor Notger Slenczka in Frage gestellt worden. Viele Christen seit Bischof Marcion (gestorben 160 n.Chr.) können im AT kein Evangelium entdecken. Folge: Sie lesen es einfach nicht. Und so entgeht ihnen ein Schatz von jahrtausendalter Überlieferung des Kampfes um Gerechtigkeit und Frieden.

Ab und zu wird über einen Abschnitt aus dem AT gepredigt. Aber nur im Gespräch kann ein Pfarrer feststellen, wo die Blockaden und Missverständnisse sitzen. Die wöchentlichen Bibelgespräche, die ich mit deutschen Aussteigern in Pattaya geführt habe, haben mir dazu die Augen geöffnet. Die Kluft zwischen dem Alltagswissen der Christen (samt ihrer Gegner) und der Bibelwissenschaft wird immer größer. Evangelische Pfarrer, die (nach Martin Luther) keine Priester, sondern „Lehrer der Heiligen Schrift“ sind, könnten sie schließen.

Sacharja wirkte um das Jahr 520 vor Christus. Nach 70 Jahren im Exil dürfen die Israeliten zurück in ihr Heimatland. Die große Schar der Neuankömmlinge muss integriert werden. Sie gehörten zur Oberschicht und wollen ihre alten Rechte und Privilegien zurück. Die im Land gebliebenen Armen fürchten um ihre Lebensqualität. Die Wirtschaft muss den großen Ansturm verkraften. Es fehlt an Wohnraum und Arbeit.

Sacharja verharmlost nicht die Herausforderungen, die anstehen. Er nennt die Probleme beim Namen. Aber er spricht den Menschen auch Hoffnung und Mut zu: „Lasst euch nicht lähmen von den großen Problemen, die vor euch liegen. Vertraut auf Gott. Er wird euch helfen und euch die Kraft geben, die ihr braucht, um die Herausforderungen anzugehen.“

Seine Visionen (in den Kapiteln 1-8) sind fremdartig, aber nicht nur für Tiefenpsychologen herausfordernd. Spätere Jünger haben andere Visionen hinzugefügt, die teilweise im Neuen Testament aufgenommen wurden. Immer wieder haben sie Menschen in schwierigen Zeiten beflügelt. So stammt der Text des wohl bekanntesten Adventsliedes „Tochter Zion, freue dich“ aus dem Buch des Propheten Sacharja.

Ich nenne meinen Beitrag (gegen Helmut Schmidt) „Visionen braucht das Land“ und nutze dazu Ideen des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) „zur Ökonomie des Lebens.“ Der ÖRK wendet sich an Kirchen, kirchliche Gemeinschaften, ökumenische Organisationen und Partner in der ganzen Welt mit einer Einladung zu intensiverem theologischen Nachdenken und Handeln im Blick auf eine bessere Globalisierung. Dieses Engagement soll u.a. die Reflexion in Kirchengemeinden, die Zusammenarbeit mit Partnern und gezielten interreligiösen Dialog einschließen.

http://www.oikoumene.org/de/resources/documents/programmes/public-witness-addressing-power-affirming-peace/poverty-wealth-and-ecology/oekonomie-des-lebens

Christenverfolgung in Eritrea

Die Landeskirche Württemberg empfiehlt, den heutigen 2. Sonntag in der Fastenzeit als Gedenktag für verfolgte Christen zu begehen. In unserer Rottenburger Gemeinde rückt der Pfarrer die Situation in Eritrea in den Mittelpunkt seiner Informationen und Gebete. Das Land wird von der „Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit“ unter Staatspräsident Isayas Afawerki regiert, welcher seit Februar 1994 an der Spitze der Übergangsregierung Eritreas steht und von „Reporter ohne Grenzen“ als mitleidloser Diktator beschrieben wird. Das Regime wird komplett von der maoistischen Einheitspartei dominiert, die eine totalitäre Kontrolle ausübt. Laut „Amnesty International“ gibt es Tausende von politischen Häftlingen, welche keinen Kontakt zu Familien und Rechtsbeiständen haben sowie ohne vorherigen Gerichtsprozess im Gefängnis sitzen.

In unserem Dorf gibt es einige Asylbewerber aus Eritrea, die erschütternde Erlebnisse berichten können. Manche kommen zum Sprachkurs, den meine Frau mitgestaltet. Es wäre gut gewesen, wenn sie im Gottesdienst aufgetreten wären. Aber ich kannte die Planung nicht.

Etwa 49 % der Bevölkerung von Eritrea gehören einer christlichen Kirche an. Es gibt dort eine anerkannte lutherische Kirche (2 % der Bevölkerung). Das Evangelische Jugendwerk Württemberg (EJW) hat seit den 1990iger Jahren partnerschaftliche Beziehungen. Ein Teil der Kollekte ist für diese Arbeit bestimmt. Die Kirche betreibt vorbildliche Sozialprojekte wie Gehörlosenschulen, Krankenstationen und ein Mädcheninternat.

Neben mir in der Bank sitzen mir bekannte evangelische Flüchtlinge aus Iran. Ich freue mich, dass sie gekommen sind, aber frage mich, was sie verstehen. Sie begreifen immerhin, dass sie willkommen sind und man sich für sie emgagiert. Es wäre wohl nötig, dass die Kirche zentral in der Region multikulturelle Gottesdienste mit und für Migranten anbietet. Es bräuchte mehr Beteiligung, eine andere Kirchenmusik und Dolmetscher für die Ansprachen. Man bräuchte fremdsprachige Bibeln und Liturgien. Die Iraner kommen gern zum Nachgespräch beim Kaffee. Aber dies findet nicht wöchentlich statt. Man kann auch nicht jeden Sonntag die Menschenrechte thematisieren. Man kann aber jeden Tag etwas tun. Ich freue mich, wie viele Leute sich in unserer Gemeinde engagieren. In den 1990iger Jahren habe ich für Russlanddeutsche „Deutsch lernen mit der Bibel“ organisiert. So etwas bräuchten christliche Flüchtlinge heute wieder. Und sie brauchen Schutz. Nicht nur vor militanten Muslimen, sondern auch vor extremen deutschen Nationalisten.

 

 

Evangelium für Muslime?

“Gott hat uns die Muslime geschickt, weil wir nicht zu ihnen gehen“, sagte Dr. Paul C. Murdoch in einem Derendinger Vortrag kürzlich. Noch abenteuerlicher sind die geradezu apokalyptischen Ausführungen in seinem Internetauftritt, in dem auch die Skizzen seiner fünf aktuellen Vorträge nachzulesen sind. Siehe http://pcm.murdochs.eu.

Der Studienleiter am Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen ist einer der bekanntesten Islam-Experten unserer Evangelikalen, hat er doch nicht nur zwei Jahre in Mikronesien, sondern auch zehn Jahre als Missionar in Pakistan gearbeitet. Darum war ich neugierig auf den letzten seiner fünf Vorträge mit dem Titel „Christsein 2016 – Evangelium auch für Muslime?“

Zunächst fühle ich mich in die fünfziger Jahre versetzt. Das Derendinger Primus-Truber-Haus ist bis auf den letzten Platz besetzt. Choräle und Soloinstrumente stimmen uns ein. Der Gemeindepfarrer begrüßt uns. Dann folgt der fast einstündige Monolog. Fragen oder Diskussionen sind nicht vorgesehen. Widerspruch wird offensichtlich nicht erwartet, man ist ja eine Lebendige Gemeinde.

Doch mir sträuben sich alsbald die Nackenhaare. Denn der Referent nutzt fast die erste Hälfte seiner Redezeit, um gegen die EKD zu polemisieren. Nun ist die EKD keine unfehlbare Institution, strebt auch kein Lehramt an. Man darf sie kritisieren. Aber sie ist nicht verantwortlich für den in diesen Kreisen immer beklagten „Glaubensschwund“. Sicher ist nicht verkehrt, dass wir Menschen möchten, die Christus nachfolgen. Aber es ist reichlich unverschämt, diese Nachfolge den verantwortlichen EKD-Vertretern abzusprechen. Gerade der gegenwärtige Ratsvorsitzende Bedford-Strohm versucht, in der weiteren Öffentlichkeit die Botschaft des Evangeliums zur Geltung zu bringen.Zu den Schwerpunkten für 2016 heißt es sogar wörtlich: „Dazu gehören unter anderem die Förderung eines missionarischen Aufbruchs, neue Begeisterung für den Glauben bei jungen Menschen zu wecken…“ Woher der Wind der Ressentiments Dr. Murdochs weht, zeigt dieser Satz: „Die Gemeinde vor Ort braucht mehr Rechte und Verfügungsgewalt. Ein Aufblühen des Gemeindelebens wird nicht vorher kommen.“ Für die Gemeinden sind eher die Landeskirchen zuständig, ihre Ordnung bestimmt eine Landessynode. Abgesehen davon: Wir haben Freikirchen in Deutschland, die vielleicht Dr. Murdoch besser gefallen. Sie stehen aber insgesamt nicht stärker als die Landeskirchen da.

Nach der Pause kommt er endlich zum Islam. Da klingt vieles sympathisch. Wir brauchen eine nachhaltige Willkommenskultur und sollten Muslimen  nicht die Reste unseres Wohlstands, sondern das Beste geben. Ihre aufgescheuchten Seelen brauchen Liebe. Wir sollten ihnen zuhören, ihre Geschichten anhören, echtes Interesse entwickeln. . „An uns muss etwas zu sehen sein.“ Sie geben uns Anlass, uns über den eigenen Glauben klar zu werden. Unsere Freiheit ist Pflicht. Sehr einverstanden! Doch dann will er eben doch „missionieren“, stellt einen Steglitzer Pfarrer als Vorbild hin, der jeden Monat dreißig Muslime tauft. Da hätte man gern nachgefragt.

In seinem Internetauftritt  wird er konkreter: „Dass Muslime in großen Scharen zu uns kommen, ist kein Zufall. Das ist nicht das Ergebnis irgendeines menschlichen Planes. Klar – Muslime planen die Kolonisation und Islamisierung Europas seit dem 7. Jahrhundert. Sie taten es von Anfang an und immer wieder gab es erneute Versuche, Europa für den Islam einzunehmen – auch in unseren Tagen. Der IS plant es, Gaddafi plante es, Erdogan hat seine Ambitionen und Intrigen, Saudi Arabien und die Emirate nehmen keine Flüchtlinge auf, weil die Krise ihren Plänen durchaus dienlich ist. Aber keiner hat die Macht, das von sich aus zu tun… Gott macht die Völkerwanderungen.” Auf dieses Gemälde verzichtete Dr. Murdoch in seinem Vortrag. Aber er zitierte den problematischen Satz von Martin Luther: „Der Türke ist die Rute Gottes.“ Da zuckte die alte Frau neben mir spürbar. Geht es denn nicht ohne Angst?

Die gescholtene EKD hat schon vor Jahren auf einer Synode sich für Mission ausgesprochen im Sinne der „missio dei“ (Sendung Gottes). Der Missionswissenschaftler Rennstich hat einmal betont, dass die Vokabel „missionieren“ nicht im Neuen Testament erscheint. Sie schmeckt nach Propaganda und Ein-Weg-Unterwerfung. Neue Wege der Glaubensverkündigung findet man nicht, wenn man trotz der Betonung von „Christ sein 2016“ die Schablonen der fünfziger Jahre benutzt. Darum hat mich der Vortrag mehrfach enttäuscht. Vielleicht sollte man bei solchen Themen mit dem innerkirchlichen Gespräch beginnen.

 

Thailand – ein Friedhof?

Eigentlich ist die Zeit vorbei, da ich als Student nach der Arbeit um Mitternacht mit Leidensgenossen ins (legendäre Tübinger Hirsch-)Kino ging. Doch heute ist es nötig, da der Film „Cemetry of Splendour“ (Friedhof der Herrlichkeit) nur einmal in einer Nachtvorstellung läuft. Und wenn schon mal ein thailändischer Film im Original gezeigt wird? Wir haben zu viert das Kino für uns. Cineasten scheint es unter den 20000 Studenten nicht mehr zu geben. Es ist aber auch ein höchst rätselhafter Film. Ich verstehe wenig, was nicht nur an mangelnden Sprachkenntnissen liegt. Untertitel können ja den Wert und Witz einer Sprache nicht wiedergeben. Viele Anspielungen bleiben mir fremd. Und das schöne Thailand bleibt in diesem quälend langsam erzählten Film unter einem grauen Himmel.

Soldaten schlafen fest. Die Betten nebeneinander gereiht, die Moskitonetze zur Seite geschoben. So habe ich bei meinen seelsorgerlichen Besuchen einfache Krankenhäuser oft gesehen. Krankenschwestern kümmern sich um die komatösen Patienten, die in einer ehemaligen Schule in einer Kleinstadt gepflegt werden. Die freiwillige Helferin Jenrija kommt in dieses provisorische Hospital. Sie humpelt. Ein Bein ist kürzer als das andere. Gemeinsam mit dem Medium Keng nehmen die Frauen Kontakt mit den Soldaten auf.

Grüne Geister in Leuchtstoffröhren, schwebende Wasserwesen, Inkarnationen verstorbener Königinnen – das sind die traumwandlerischen Bilder, die Apichatpong Weerasethakul in seinem neusten Film Cemetery of Splendor montiert.

Es heißt: „Konzentriert, hypnotisch und mit einem wachen Blick auf die ganze Bandbreite der Legenden und Mythen seines Landes erzählt Weerasethakul nicht bloß von der Vergangenheit Thailands. Sein Film ist – trotz seiner Stille und einer unendlichen Zärtlichkeit – auch sehr gegenwärtig und wütend, ein Manifest gegen die Sünden der Militärregierungen und ihre Säuberungswellen gegen angebliche Kommunisten in den 1970er Jahren.“

Die humpelnde Jenrija kümmert sich vor allem um den Soldaten Ipp. Sie spricht mit ihm. Später erfährt sie, dass das provisorische Krankenhaus auf einem ehemaligen Königsfriedhof erbaut worden ist, deshalb verharren alle Soldaten in dieser Schlafstarre. Doch die Reinkarnationen kann das nicht stoppen. Ärzte erkunden derweil die Möglichkeiten einer Lichttherapie, um die Alpträume zu erleichtern. Als Jenrija ein Notizbuch mit fremden Skizzen entdeckt, ahnt sie die Zusammenhänge mit dem mythischen alten Ort. Ipp erscheint Jenrija in Form einer schönen Königin. Beide streifen gemeinsam durch einen Vergnügungspark, der durch einen Tsunami zerstört worden ist. Auch das ist so eine Art Friedhof. Jetzt wuchert das wilde Gras durch die Skulpturen und Attraktionen hindurch. Vorsichtig schleichen Jenjrija und Ipp durch den Wald. Sie reden über die Kraft des Neuanfangs, über die Kraftlosigkeit, sich gegen die Verhältnisse zu wehren und den Lügen der Mächtigen zu trotzen. Einmal sagt Jenrija zu Ipp, sie wünsche ihm, dass er möglichst lange schlafe, weil sich die Zeiten nicht so schnell ändern würden. Ein Satz voller Hoffnungslosigkeit und Wut.
Der Filmkritiker Patrick Wellinski meint: „Und wieder einmal erreicht die reine Rezension im Falle von Weerasethakuls Filmen die Grenze des Beschreibbaren. Seine poetischen Bilder lassen sich daher vielleicht am besten mit Poesie fassen und überraschender Weise muss man in Cemetery of Splendor an Rilke denken, dessen Sieben Gedichte wie ein melancholisch-schöner Resonanzraum zu diesen thailändischen Geisterbildern scheinen: „Du junger Ort der tiefen Himmelfahrt / Du dunkle Luft voll sommerlicher Pollen / Wenn ihre tausend Geister in dir tollen / wird meine steife Leiche wieder zart.““

Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Film im Thailand gezeigt wird. Nicht nur die Militärs werden kaum dulden, dass ihre Leute im Tiefschlaf gezeigt werden. Die meisten Leute bevorzugen im Kino leichte Kost, oft amerikanischer Machart. Der Film spielt eine solche Szenen als „Kino im Kino“ ein. Da wird es plötzlich schrill und laut. Ansonsten spürt man eine fast quälende meditative Ruhe. Dass Geister für Thais real sind, ist bekannt. Dass aber Göttinnen leibhaftig sich für Geschenke und Opfer bedanken, verwirrt die gläubige Frau in einer fast komödiantischen Szene. Dass sie mit einem dicken Amerikaner zusammenlebt und darüber spottet, ist wiederum tausendfach gelebte Realität. Lustig auch die Frauen bei ihrer öffentlichen Gymnastik. So haben wir das oft gesehen. Und wenn Suppe von der Straßenküche gelöffelt wird, möchte man gleich mitessen.

Am Anfang lärmt ein Bagger und am Ende ist die Erde bei der Verlegung von Kabeln umgewühlt. Ein Land im Umbruch!

ARTE TV hat die Film mitproduziert und wird ihn irgendwann im Fernsehen zeigen. Sollte es im Spätprogramm sein, kann man sich wenigstens einen Kaffee machen. Die Gefahr, dass man selber einschläft, ist sonst nicht gering.
Vorschau unter: http://kino-zeit.de/filme/trailer/cemetery-of-splendour.

Ärzte gegen den Krieg (IPPNW)

Tübingen ist eine friedensbewegte Stadt. Doch die Aktivisten sind älter geworden. Heute gehe ich zu einer Veranstaltung der „Senioren für den Frieden“. Ein pensionierter Zahnarzt spricht über „IPPNW: Ärzte gegen Atomkrieg – Was machen die eigentlich heute?“ Leider gibt es in Tübingen keine eigene Gruppe mehr, zu der in den achtziger Jahren noch viele Ärzte gehörten. Manche aber engagieren sich weiter. Noch 6.500 Ärzte und Ärztinnen, Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen und Medizinstudierende setzen sich ein: Für eine Welt ohne atomare Bedrohung. Für eine Welt in Frieden. Für eine Medizin in sozialer Verantwortung. Die Themen haben sich differenziert. Gegenwärtig steht der Syrienkrieg im Vordergrund.

Prof. Heinz-Jochen Zenker von „Ärzte der Welt“ betreibt seit zehn Jahren einen medizinischen Dienst für Menschen ohne Papiere, seit Neuestem gehört
auch an sechs Tagen der Woche eine Ambulanz für ankommende Flüchtlinge am
Omnibusbahnhof in München dazu. Dort käme es mehr auf die basale medizinische Versorgung an als auf alles andere.

Der Redner weist darauf hin, dass keine Waffenart mehr Opfer fordert als Kleinwaffen: 2013 seien 69.872 und 2014 106.435 Menschen durch Kleinwaffen getötet worden. Die Menschen, die vor Gewalt und Terror fliehen, fliehen auch vor Waffengewalt, die von Waffen aus Deutschland ausgeht, denn Deutschland ist der drittgrößte Exporteur von Kleinwaffen weltweit.

So befinden sich bereits deutsche Waffen in den Händen des „IS“, der damit sein Regime weiter aufrecht erhält und ausbaut, ebenso werden mit deutschen Waffen die Banden- und Drogenkriege in Mexiko geführt. Und auch in libyschen Waffenlagern sind deutsche Sturmgewehre gefunden worden.

„Eine Möglichkeit, deutsche Waffenexporte transparenter zu machen und in den Griff zu bekommen, ist die Einführung eines Rüstungskontrollgesetzes.“ Die Einführung eines solchen Gesetzes könne bewirken, dass zukünftig mehr Klarheit, Transparenz und demokratisches Mitspracherecht herrscht, wenn es um deutsche Waffenexporte geht.

Neben offenen Kriegen engagieren sich die Ärzte aber auch gegen die „friedliche Nutzung“ der Atomkraft: Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, fand die Mär von der „sicheren Atomkraft“ mit dem Super-GAU von Tschernobyl ein abruptes Ende. Millionen von Menschen wurden direkt durch radioaktiven Niederschlag betroffen; viele starben und noch viel mehr leiden bis heute an den Folgen der Strahlung. Vor 5 Jahren, am 11. März 2011, zeigte sich, dass die Menschheit die Lektion von Tschernobyl nicht gelernt hatte, als es in Fukushima zu einem mehrfachen Super-GAU kam, dessen von einer Interessengemeinschaft aus atomfreundlichen Regierungen, korrupten Behörden und mächtiger Atomlobby weitgehend vertuschten Folgen nach wie vor gesundheitliche Gefahren für Millionen von Menschen weltweit – auch in Deutschland – zeitigen.

Mehr als 200.000 Menschen aus der Präfektur Fukushima mussten damals ihre Heimat verlassen und in Übergangslager evakuiert werden, wo bis heute noch knapp Hunderttausend ausharren. Aber die Folgen der Katastrophe erstreckten sich weit über die Grenzen der Präfektur hinaus. Millionen von Menschen sind seit Beginn der Katastrophe erhöhten Strahlendosen ausgesetzt – vor allem in den Regionen mit relevantem radioaktivem Niederschlag, aber auch in weniger belasteten Teilen des Landes, wo Menschen mit verstrahltem Trinkwasser, radioaktiver Asche durch verbrannten Dekontaminationsmüll und kontaminierter Nahrung konfrontiert wurden. Die Ärzteorganisation IPPNW wird auf der Pressekonferenz am 17. Februar 2016 in Berlin eine aktualisierte Studie zu den gesundheitlichen Folgen von Fukushima und Tschernobyl vorstellen. Die örtlichen Friedensgruppen kündigen ebenfalls Aktionen an.

Mehr Informationen findet man unter https://www.ippnw.de.

Der Kampf für das Frauenstimmrecht

Der neue Film “Suffragette” hat mich zu weiterer Lektüre angeregt. Das „Buch zum Film“ sozusagen ist von Michaela Karl „„Wir fordern die Hälfte der Welt!” Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht.“ Fischer Taschenbuch Verlag, 2009, 368 Seiten.

Dass Frauen wählen dürfen, ist gar nicht lange her. Noch vor hundert Jahren kämpfte in England eine ganze Gruppe, die »Suffragetten«, um dieses elementare demokratische Recht. Und dieser Kampf hatte es in sich: Mit ganzem Einsatz und in originellen Aktionen kam es zu einem regelrechten Guerilla-Krieg.

Die Verfasserin beginnt mit den ersten Emanzipationsbewegungen im 18. Jahrhundert, als sich einige gebildete Frauen gegen patriarchale Unterdrückung auflehnen. Oft sind es religiöse Gruppen wie die Auswanderer der ‚Mayflower’, die die Erlösung der gesamten Menschheit vertreten und sich für die Gleichheit der Frau einsetzen. Die religiöse Fundierung sieht man auch daran, dass später 20% der Mitglieder der ‚National Union of Women’s Suffrage Societies’ (NUWSS) aus Quäker-Familien kommen. 1846 verfasst die Quäkerin Anne Knight das erste von vielen Flugblättern für das Frauenstimmrecht.

Es ist erschütternd, wie dumm die Männerwelt mehrheitlich auf die berechtigten Forderungen reagiert. Immer wieder werden die engagieren Frauen hingehalten, ausgetrickst oder gegeneinander ausgespielt. Sie sind natürlich nicht immer einig, stammen sie doch aus oft unterschiedlichen sozialen Klassen und Regionen.

Mich interessiert die Rolle der Kirchen: Die Anglikanische Staatskirche ist eher ablehnend, obwohl einzelne Bischöfe die Frauen durchaus unterstützen. Die erhoffen sich vom Wahlrecht für Frauen eine Hebung der Moral. „Einige Kirchenmänner formen die ‚Church League for Women’s Suffrage’, da sie die Einführung des Frauenstimmrechts als logische Konsequenz aus dem christlichen Prinzip der Gleichheit aller Menschen ableiten.“S.152 Es gibt Unterstützer aus den Reihen der katholischen Kirche (Irland wird damals von London regiert!), vor allem aber aus den Freikirchen. Sie stellen den Frauen Räume und andere Mittel zur Verfügung.

Neben dem Wahlrecht ist vielen Frauen der Kampf gegen das soziale Elend der Unterschicht (Hunger, Alkoholismus, Prostitution etc.) wichtig. Es gibt aber Auseinandersetzungen untereinander, wie die Prioritäten zu setzen sind.

Der Film konzentriert sich auf die Jahre 2012/13, als sich ein Teil der Frauenbewegung weiter radikalisiert und zur offenen Gewalt übergeht. Deren Führerin ist Emmeline Pankhurst, die durchaus radikal und diktatorisch ihren Verband ‚Women’s Social and Political Union’ (WSPU) leitet und später von ihrer Tochter Christabel, teilweise aus dem Exil, unterstützt wird. Die andere Tochter Sylvia versteht sich als Sozialistin und möchte vordringlich soziale Reformen erreichen. Alle drei haben eine spannende Biografie, die die Autorin anschaulich schildert.

Eine weitere Heroine ist Emily Wilding Davison, deren selbstmörderische Aktion im Film gezeigt wird, als sie bei einem Derby gegen das Pferd des Königs läuft. Vorher schon hat sie wie viele andere tapfer Gefängnisfolter und Zwangsernährung erduldet. Einmal schrieb sie an eine Gefängniswand ihren Wahlspruch ‚Rebellion gegen Tyrannei ist Gehorsam gegenüber Gott.’ „Von Kindheit an ist Emily sehr religiös, betet, liest die Bibel und besucht regelmäßig die heilige Messe. All ihre Handlungen versteht sie als Auftrag Gottes. Größte Bewunderung bringt sie Jeanne d’Arc entgegen. Ihrem Kampf für’s Frauenstimmrecht wohnt ein durchaus religiös geprägter Fanatismus inne.“ S.291

Was der Film nicht mehr zeigt: Mit dem Ausbruch des Weltkriegs 1914 ist der Kampf der Suffragetten beendet. Die meisten beteiligen sich mit nationaler Begeisterung an den Kriegsanstrengungen. Ein kleinerer Teil der WSPU und natürlich die Sozialistinnen wie Sylvia Pankhurst engagieren sich ohne Erfolg in der internationalen Friedensbewegung. Nun aber beweisen die Frauen wozu das „schwache Geschlecht“ fähig ist, als sie die Arbeitsplätze der in den Krieg eingerückten Männer übernehmen. Die jahrhundertealten gepflegten Vorurteile schmelzen dahin. Demzufolge kann nach Kriegsende das Wahlrecht für alle weder den ehemaligen Soldaten noch den Frauen vorenthalten werden. Vorsichtshalber legt man aber für Frauen ein Mindestalter von dreißig Jahren fest. (Erst 1928 erhalten sie das gleiche Wahlrecht wie die Männer, 1969 wird das Mindestalter auf 18 herabgesetzt.) In der Siegesfeier singt man die religiös gesättigte Hymne „Jerusalem“ nach einem Gedicht von William Blake, in dem es zum Schluss heißt: „I will not cease from Mental Fight, Nor shall my Sword sleep in my hand,
Till we have built Jerusalem / In England’s green and pleasant Land!“

Die Führerinnen der WPSU gerieten nach der Einführung des Wahlrechts ins politische Abseits. Viele engagierten sich wieder in religiösen Vereinigungen. Manche kandidierten in diversen Parteien. Doch keine der Suffragetten gelangte jemals ins Parlament.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wolf Singer in Tübingen

Große Plakate wie bei einem Popkonzert weisen auf den Vortrag des Hirnforschers Wolf Singer hin: “Das Unerklärliche erklären”. Demzufolge ist der Andrang groß. Die Veranstaltung des Rhetorischen Seminars der Universität Tübingen muss per Video in zwei weitere Hörsäle übertragen werden. Der Vortragende wundert sich: „So viele Interessierte in so einer kleinen Stadt“. Ich wundere mich eher, dass die militanten Tierschützer nicht demonstrieren, denn Singer ist auch an Tierversuchen beteiligt und rechtfertigt sie.

Ich habe wenig Ahnung von Hirnforschung, mich aber  im Internet etwas schlau gemacht. Da sind ganze Vorträge und Artikel des weltberühmten Referenten zu finden.

Er beginnt angenehm zurückhaltend: Aus dem „Unerklärlichen“, das manche wohl esoterische Weisheiten erwarten ließ, macht er gleich das „Unvorstellbare“. Er plädiert zunächst schlicht für die moralische Verpflichtung des Wissenschaftlers, seine Forschungen transparent und redlich zu kommunizieren. Überraschung für den zuhörenden Theologen: „Nicht alle können alles wissen, aber alle müssen an ethischen Diskursen teilhaben. Grundlage dafür ist Vertrauen!“ Vertrauen ist das evangelische Hauptwort, um das neutestamentliche „pistis“ (Glauben) zu übersetzen.

Bescheiden nimmt er spektakuläre Erwartungen zurück: „Wir können nur erkennen, was unser Gehirn erlaubt.“ Seine kognitiven Leistungen verdanken wir der evolutionären Anpassung an die mesokopische Welt, die für das Überleben wichtig sind. Es ist ein winziger Ausschnitt der Realität. Kognitive Leistungen sind darum begrenzt und eklektisch.

Sein Interesse ist die freie neugierige Forschung, die nicht gleich nützlich ist. Allerdings müsse er für die Gewinnung von Forschungsgeldern immer auf den möglichen Nutzen verweisen. Den könne echte Forschung aber gar nicht kennen. „Utilitaristische Begründungen sind meistens unredlich.“

Nachdem er uns dann die Komplexität des Gehirns vor Augen geführt hat, ahnen wir, dass mit dem Fortschritt des Wissens das nicht Gewusste immer größer wird. „10 hoch 11“ Neuronen im Hirn gehen unzählige Verbindungen ein. Unverstanden bleibt, wie in den Wechselwirkungen zwischen Neuronen kodiert wird. Inhalte werden durch „assemblies“ kodiert. Aber wie? Jedenfalls ist das Gehirn weder Uhrwerk noch Computer.

Es gibt keine Kommandozentrale, in der entschieden werden könnte, in der das „Ich“ sich konstituieren könnte. Wir haben ein hochvernetztes, distributiv organisiertes System vor uns. In diesem laufen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig ab, die in ihrer Gesamtheit zu kohärenten Wahrnehmungen und koordiniertem Verhalten führen und ohne Konvergenzzentrum auskommen.

Nachdem man den alten Traum aufgeben musste, im Gehirn eine Art Zentrum oder Schaltstelle zu finden, kommen neue philosophische Fragen. Kann man von einem „Ich“ sprechen? Wie verstehen wir die Leib-Seele-Problematik?

Singer ist bekannt geworden, weil Journalisten seine Zweifel am freien Willen des Menschen herausgestellt haben. Singer begründet seine Position eher vorsichtig- tastend: „Es bleibt Raum für Ungewissheit“. Singer zufolge werden neuronale Prozesse erst dann bewusst, wenn sie sich Lösungen nähern. Deshalb bleibt die Erfahrung, frei zu sein, widerspruchsfrei, weil wir uns der Aktivitäten nicht gewahr werden, welche die Entscheidungen vorbereiten. Die Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes zu tun, bleiben uns verborgen. Auch ein Abwägungsprozess beruht auf neuronalen Prozessen und folgt Szenarien deterministischer Naturgesetze. Die Variablen, auf denen der Abwägungsprozess beruht, sind jedoch abstrakter Natur und nach sehr komplexen Regeln miteinander verknüpft.

In der Diskussion fordert ihn deswegen eine Philosophin heraus. Singer verteidigt sich matt und lässt das Gegenargument stehen. Die Philosophen sind überwiegend der Meinung – so zum Beispiel Peter Bieri, Ernst Tugendhat und Ansgar Beckermann – dass die Hirnforscher, die die Willensfreiheit verneinen, keine überzeugenden Argumente vorgelegt haben, ja dass sie eigentlich recht deutlich zu erkennende Argumentationsfehler begehen, die schon in früheren Stadien der Diskussion über Willensfreiheit überwunden worden sind.

Den evangelischen Theologen, der Luthers Hauptschrift „De servo arbitrio“ („Vom unfreien Willen“) kennt, kann diese These nicht erschüttern. Es ist wohl eher eine Herausforderung für eine selbstunkritische Aufklärung. Martin Luther betonte in seiner Schrift „De servo arbitrio“ die Unfreiheit des menschlichen Willens hinsichtlich des Heils und auch grundsätzlich die Unmöglichkeit eines freien Willens. Diese Position führte in der Zeit der Reformation zum öffentlichen Bruch zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam.

Was Theologen zur Hirnforschung sagen, ist ein Kapitel für sich. Ich fand das Gespräch mit Wolfgang Huber in „Spektrum der Wissenschaft“ hilfreich.

http://www.spektrum.de/magazin/theologie-ist-die-demuetigere-wissenschaft/83677.

Insgesamt entmythologisiert – wie ich finde – Professor Singer die gegenwärtige Hirnforschung. Man weiß heute weniger als man vor zwanzig Jahren dachte. Einigermaßen desillusioniert gehen die Zuhörer in die Nacht.

 

 

Suffragetten

Lag es am Wetter oder am Thema, dass das Kino ziemlich leer bleibt? Wir schauen den Film Suffragette – Taten statt Worte“. Ich gebe zu: Von diesem Kapitel Emanzipationsgeschichte habe ich wie die meisten keine Ahnung. Eine Suffragette (von englisch/französisch suffrage ‚Wahlrecht‘) war für mich eher eine Witzfigur aus „Mary Poppins“. Sehr bedauerlich. Aber der Film regt an, eine historische Lektion nachzuholen.

Zwei sehr unterschiedliche Filmkritiken machen neugierig. In der ZEIT beurteilt Andrea Hünninger den Film als “Seifenoper”: „Also erzählt Suffragetten von einer mehr oder weniger friedlichen Revolution, in der die Frauen Fenster einwerfen und Briefkästen sprengen, um das Wahlrecht zu erzwingen. Was der Film nicht erzählt, ist, warum es vor allem die bürgerlichen Frauen waren, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts radikalisierten. Was er auch nicht erzählt, ist, dass bereits zwei Jahre, bevor die Handlung des Films einsetzt, Hunderte Frauen von ihren Familien verstoßen wurden und die Polizei mit roher Gewalt auf sie losging. Wie zahlreiche von ihnen an den Folgen der Verletzungen durch die Polizisten starben. Nicht nur deshalb wirkt dieser Film gesäubert. Er höhlt die Geschichte des Feminismus aus, obwohl diese wenig beleuchteten Anfänge aller Frauenbewegungen essenziell für das Verständnis des heutigen Feminismus sind.“

Ganz anders Andreas Platthaus in der FAZ: „Geschickt erzählt der Film von den neuen Repressionsinstrumenten, die vor hundert Jahren gegen die Aktivistinnen eingesetzt wurden: Überwachungskameras etwa oder Zwangsernährung bei Hungerstreik. Die Presse diente als willfähriges Denunziationsinstrument, die Politik flüchtete sich in Ausschüsse, statt halbherzig versprochene Reformen anzugehen: Wenn die Männer zusammensitzen, denken sie sich nur unangenehme Dinge für Frauen aus. Plötzlich ist der Kampf der Suffragetten, wie Sarah Gavron ihn uns hier zeigt, ganz modern, geführt über Symbole und im Selbstbewusstsein, für die halbe Menschheit einzutreten. Gewonnen ist er bislang nur de iure, und nicht einmal das in allen Staaten. De facto bleibt noch viel zu tun, und auch daran erinnert „Suffragette“. Er ist damit im besten Sinne Lehr- und Rührstück zugleich.“

Obwohl prominente Suffragetten vorkommen, erzählt der Film aus der Perspektive einer einfachen Wäscherin. Die erbärmlichen Arbeitsbedingungen, aber auch die gesellschaftlichen Zwänge werden deutlich. Frauen und Männer sind Opfer, aber auch Täter eines unmenschlichen Systems, das als Imperialismus die Welt erobern will, aber nicht einmal die eigenen Gassen sanieren kann oder will.

Zwei Frauen stechen heraus: Im Jahr 1903 gründete Emmeline Pankhurst in Großbritannien die Women’s Social and Political Union, eine bürgerliche Frauenbewegung, die in den folgenden Jahren durch öffentliche Proteste, politische Demonstrationen und Hungerstreiks auf sich aufmerksam machte. Im Film verkörpert sie Meryl Streep. Sie wirkt allerdings in ihrem zweiminütigen Auftritt, als würde sie sich selbst parodieren.

Die andere ist Emily Davison, deren finale Aktion auch den Film beendet. Am 4. Juni 1913 besuchte sie das berühmte English Derby von Epsom. Während des Rennens lief Davison auf die Galopprennbahn und wurde vom Pferd des Königs überrannt. Sie zog sich schwerste innere Verletzungen und einen Schädelbruch zu und starb vier Tage später. Die Inschrift ihres Grabsteins endet mit “Deeds, not words” ( „Taten, nicht Worte“). Der Film verlässt bei der Darstellung des riesigen Trauerzugs die Fiktion und geht in zeitgenössische Wochenschauaufnahmen über.

Zwei Fragen beschäftigen den Theologen: 1. Wie hat sich die damalige Kirche verhalten? Als Staatskirche hat sie sicherlich das männliche Regiment gefördert. Doch es gab Ausnahmen. Im Film kommt nur vor, dass die Protagonistin nach dem Rauswurf durch ihren Mann in einer Kirche übernachtet. Haben also kirchliche Kreise die Suffragetten wenigstens karitativ unterstützt? 2. In einer Szene zitiert eine Mitstreiterin die Bibel (Offenbarung 21,4) „Er wird abwischen alle Tränen.“ Gab es also Christinnen, die sich beteiligt haben?

Es wird durchaus gezeigt, dass viele Frauen die Suffragetten abgelehnt haben. Das ist wohl bis heute so. Meine Großmütter hätten das auch. Ich bedaure, dass keine eine Suffragette war.

Der Nachspann erwähnt, wie lange es noch dauerte bis Frauen in verschiedenen Ländern das volle Wahlrecht bekamen. In Saudiarabien haben sie es immer noch nicht.

Humanität mit Gott

In der Arbeitsgemeinschaft der “Pfarrsenioren” hält ein erfahrener Kollege einen Vortrag mit zehn Thesen über Albert Camus „Humanität ohne Gott“.

Schon vorher bewegt mich die Veranstaltung. Verschiedene Stadien meiner Beschäftigung mit Werken Camus’ fallen mir ein.

Erstmal wurde ich mit hm konfrontiert durch unseren Schülerpfarrer. 1965 nahm ich an Tagungen teil, die ein gewisser Horst Hirschler (später Landesbischof) anbot. Noch immer staune ich über das Niveau, das er uns Pennälern zumutete. Er war von Camus so angetan, dass wir schon über seine „Camus-Platte“ spotteten. Einige Exemplare seines „Evangelischen Schülerbriefs“ habe ich aufbewahrt. In einem (3/1965) schreibt er, „warum der Christ die Gedanken der Atheisten kennen soll.“ Punkt 5 lautete: „Weil er feststellen kann, dass manche Wahrheit des Glaubens heute von Ungläubigen besser und wirksamer vertreten wird als von den Christen.“

Im 2. Semester belegte ich in Berlin 1967 ein philosophisches Proseminar über Camus’ „Der Mythos der Sisyphos“. Es fand Samstagvormittags (!) statt. (Ein numerus clausus der Bequemlichkeit.) Ich gebe zu: Vielleicht hätte ich den Samstag auch anders verbracht, wenn da nicht eine Studentin dabeigewesen wäre, die einige Semester voraus war und deren Nähe mir wichtig war.

Ich verstand in dem Seminar nicht viel, aber das Problem Selbstmord interessierte mich und der letzte Satz des Essays tröstete mich: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Als dann die Studentenbewegung in eine Gewaltspirale geriet und Marxisten ständig neue Eskalationsstufen erfanden, bewahrte mich Camus vor Menschen verachtender Radikalität. Seine Kritik an allen Totalitarismen gefiel mir. So las ich gern seine Romane, Erzählungen und Theaterstücke. In jenem Jahr erschien auch der Spielfilm „Der Fremde“.

Aber niemals habe ich mir einen Gesamtüberblick verschafft. Das hole ich am Wochenende nach, um mich auf die heutige Diskussion vorzubereiten. Ich lese Iris Radisch, „Camus. Das Ideal der Einfachheit“, Rowohlt 2013.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11.2013:„Unter den drei zu Albert Camus‘ hundertstem Todestag publizierten Biografien preist Rezensent Jochen Schimmang insbesondere Iris Radischs nun unter dem Titel „Das Ideal der Einfachheit“ erschienenes Werk. Der Kritiker lobt nicht nur die Empathie, mit der sich Radisch dem französischen Philosophen nähert, seine beschwerliche Kindheit in Algerien beleuchtet und zwischen Realität und Wunschbild Camus‘ differenziert, sondern ihr gelinge es auch mit „Bravour“ Einträge aus Camus‘ Tagebüchern ganz ohne schematische Zuordnungen mit ihrer Biografie zu verbinden. Darüber hinaus stellt der Kritiker mit Bewunderung fest, dass Radisch auch durchaus noch Neues über den Autor zu berichten weiß: Das „mittelmeerische Denken“ etwa sei keine Erfindung Camus‘ gewesen, sondern kursierte in Algier bereits in den zwanziger Jahren, berichtet der Rezensent. Neben den eindrucksvollen Einblicken in das Leben des Philosophen würdigt Schimmang das Buch auch als gelungene Werkbiografie, die zwar weniger ausführlich als jene von Martin Meyer ist, dafür aber durchaus „dezidierter“. Und so kann der Kritiker dieses brillante Buch als erste oder weiterführende Auseinandersetzung mit Camus nur dringend empfehlen.“

In der heutigen Diskussion sind die Pfarrkollegen schnell bei der letzten These, die sich mit der gegenwärtigen religiösen Situation befasst: „Mit Predigten…, in denen in einer objektivierenden, behauptenden und beschwörenden Weise von Gott gesprochen wird… sind diese Menschen kaum mehr zu erreichen.“ Klar: Theologen müssen über ihre Sprache nachdenken.

Ich bringe zwei andere Aspekte ein, die mich nach der Lektüre dieser Biografie beschäftigen.

1. Für uns Nachgeborene, die wieder mit der politischen Situation Nordafrikas konfrontiert sind, ist es schwer fassbar, dass der geborene Algerier Camus die strukturelle Gewalt des Kolonialismus nicht wahrgenommen und thematisiert hat. Zwar hat er als Journalist das soziale Elend beschrieben, aber die Lebenswelt des einfachen arabischen Menschen hat ihn wohl wenig umgetrieben. Arabisch hat er nicht gesprochen, die koloniale Präsenz Frankreichs hat er bis zuletzt verteidigt, eine algerische Unabhängigkeit wollte er sich nicht vorstellen. Er kritisiert mit Recht die damalige katholische Kirche, aber er kennt wohl nicht die Priester und „Weißen Väter“, die mit den Ärmsten der Armen zusammenleben. Sie riskieren dabei ihr Leben. Sie praktizieren längst eine Humanität mit Gott. Camus muss doch wenigstens den Mönch Charles de Foucauld gekannt haben.

„F. lernte Tamascheq, die Sprache der Tuareg, erstellte ein 2.000 Seiten umfassendes Wörterbuch dieser Sprache und sammelte auf 800 Seiten die Gedichte und Fabeln dieses Volkes. Seine Forschungen zur Literatur und Sprache der Kel Ahaggar zählen noch heute zu den wertvollsten Arbeiten aus der Frühzeit der wissenschaftlichen Afrikanistik. Eine tiefe Freundschaft verband ihn mit Moussa ag Amastan, dem Amenokal (König) der Tuareg, ebenso half er bei der Schlichtung von Streitigkeiten. Mission betrieb Foucauld nicht, sondern widmete sich in seiner kargen Freizeit der eigenen spirituellen Entwicklung.“

Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_de_Foucauld

2. Camus’ Umgang mit Frauen finde ich skandalös. Seine ständigen Liebschaften mögen Privatsache sein und drei Geliebte gleichzeitig neben der Ehefrau beweisen zumindest logistische Begabung, aber mit Humanität hat das spätestens dann nichts mehr zu tun, wenn die eigene Frau verzweifelt aus dem Fenster springt. „Im Werk Camus’ gibt es keine Liebe zwischen Mann und Frau, nicht im zeitgenössischen Sinn. Dem Autor fehlen dazu alle Voraussetzungen…In seiner Liebespraxis ähnelt er dem Libertin und dem adligen Lebemann. Das Unglück, das er damit anrichtet, ist ihm nicht gleichgültig. Er betrachtet es jedoch wie ein Schicksal, dem man nicht entkommen kann.“ Radisch S. 151. Einwand eines Kollegen in der Diskussion: „Aber er liebte seine Mutter!“ Ich will ihn nicht auf die psychoanalytische Couch legen, aber sein Mutterkomplex ist unübersehbar. Dass er den Satz geschrieben hat „Außer in der Liebe ist die Frau langweilig“, will nicht einmal seine Tochter glauben. Man muss nicht Feminist sein, um diese Einstellung abzulehnen. Die erscheint so aus der Zeit gefallen wie die ewigen Zigaretten, die sich die Pariser Intellektuellen in den Mund steckten. (Ja, das fanden meine Mitschüler (10. Klasse) so toll, dass sie bei einem Fest einen verqualmten „Existentialistenkeller“ aufbauten.)

Camus hat nicht den Anspruch erhoben ein Heiliger zu sein, nicht einmal ein Vorbild. Aber anregend bleibt er. Deswegen ist es schade, dass er nach der Philosophie des Absurden und der Revolte seinen dritten geplanter Zyklus „Was heißt Liebe und Mitleiden?“ nicht mehr schreiben konnte.

Der oben erwähnte Schülerpastor und Camus-Fan meinte seinerzeit noch, dass dessen Widerspruch gegen die christliche Religion Ergebnis eines schlechten Religionsunterrichts ist.

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Die Fülle des Lebens

Zum Jahresauftakt 2016 empfing der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) den Tübinger Theologen Jürgen Moltmann einen Tag lang zu Vorträgen und Gesprächen im Ökumenischen Zentrum in Genf. Dabei ging Moltmann auch auf Fragen und Bemerkungen zu seinem letzten Buch „Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens“ (Gütersloher Verlagshaus, 2014) ein, dessen englische Fassung im Dezember von WCC-Publications veröffentlicht wurde.

Das jüngste Buch Jürgen Moltmanns will „auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit“ sein. Demzufolge kritisiert er in der Einleitung „das reduzierte Leben der modernen Welt“. In Auseinandersetzung mit Lessing und Feuerbach, aber vor allem den Deformationen der Moderne kommt er zu dem Ergebnis, dass der Mut, man selbst zu sein und sich nicht verbiegen zu lassen, in der Religion des Exodus und der Auferstehung besser aufgehoben ist als im Atheismus. Den ewigen und lebendigen Gott zu denken geht darum von Lebensbejahung aus. Wir stimmen ein „in das große JA des göttlichen Schöpfers, der will, dass Leben da ist und dass es gelebt und geliebt wird.“ Diese Gewissheit ist vorrational, erleuchtet aber den Verstand mit Weisheit.

Im 2. Kapitel setzt er sich mit der traditionellen Lehre der „Eigenschaften Gottes“ auseinander, insbesondere der „Leidensunfähigkeit“. Der lebendige Gott ist nicht a-pathisch, weil er kein beziehungsloser Gott ist. „Wer liebesfähig ist, ist auch leidensbereit, denn er öffnet sich für die Erfahrung des Anderen…Gott ist keine leidensunfähige himmlische Substanz, sondern Subjekt unendlicher göttlicher Liebe.“

Wie das konkret wird, kann man in Moltmanns Verständnis der Trinität sehen. (Kap.3): „Der dreieinige Gott lebt das ewige Leben in wechselseitiger Liebe in sich selbst. Die Geschichte Christi ist seine Lebensgeschichte für uns, bei uns und mit uns. Sein ewiges Leben nimmt in der Geschichte Christi unser endliches Leben in sich auf. Dieses sterbliche Leben ist darin schon ewiges Leben. Wir leben in seinem ewigen Leben, auch wenn wir sterben.“

Das ewige Leben ist nicht nur Gemeinschaft mit dem göttlichen Leben, sondern auch die Gemeinschaft der Lebenden und Toten (mit Konsequenzen für die Erinnerungskultur). Vor allem ist es „in der Gemeinschaft der Erde“. Mit diesem Hinweis bestreitet Moltmann gnostische Bilder im Christentum: „Um es persönlich zu sagen: Ich will nach meinem Tod nicht „in den Himmel kommen“, sondern ich „erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben der zukünftigen Welt.“ Die Teilnahme am Leben der Erde führt zu einem universalen Lebensgefühl in kosmischer Demut und Liebe. So ist Glaube an Gott nicht zunächst „der Seufzer der bedrängten Kreatur“ (Karl Marx), sondern wird im „Fest des Lebens“ erfahren. „Warum ist das Christentum eine einzigartige Religion der Freude, obwohl in seiner Mitte das Leiden und Sterben Christi am Kreuz stehen? Weil hinter Golgatha die Sonne der Auferstehungswelt aufgeht, weil der Gekreuzigte im Glanz des ewigen, göttlichen Lebens auf Erden erschienen ist, weil in ihm die neue, ewige Schöpfung der Welt beginnt.“

Freiheit versteht Moltmann gegen eine gewisse philosophische Tradition (Stoa, Kant, Marx) nicht als „Einsicht in die Notwendigkeit“, sondern als Einsicht in die Möglichkeit. Diese Freiheit ist nicht eine Harmonie der bestehenden Machtverhältnisse, sondern der Einklang mit dem Kommenden. Diese Freiheit wird in offener Freundschaft gelebt, weshalb Moltmann die Vorstellung von den Freunden Gottes aktualisiert. Sie erfordert eine Kirche, die sich als „Gemeinschaft der Freunde“ versteht. Im Unterschied etwa zur buddhistischen Lehre vom Leiden betont Moltmann die leidensbereite Liebesethik des Paulus, der die Fülle des Lebens in einem Reichtum der Begabungen (Charismen) sieht. Darum hat er Gemeinden als Gegenmodell zu der „Konkurrenzkultur“ des Römischen Imperiums geschaffen. Gegen eine einseitige Spiritualität der Seele plädiert Moltmann für eine Spiritualität aller Sinne. Wir erleben Gottes Gegenwart mit allen Sinnen. „Die ganze Schöpfung ist ein großes, wunderbares Sakrament seiner einwohnenden Gegenwart.“

In kritischer Auseinandersetzung mit Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ überdenkt Moltmann noch einmal seine eigene „Theologie der Hoffnung“, die er vor fünfzig Jahren geschrieben hat. „Leben in der Hoffnung ist kein halbes Leben unter Vorbehalt, sondern ganzes Leben im Erwachen in der Morgenröte des ewigen Lebens.“

Darum beschreibt er das christliche Leben abschließend als „Fest ohne Ende“ und endet mit einem Lobpreis in der Anbetung (Doxologie). „Wir stehen in der Anbetung Gottes nicht nur vor dem heiligen Geheimnis, sondern auch vor der unerschöpflichen Fülle Gottes. darum muss man nicht nur schweigen von dem, worüber man nicht sprechen kann, sondern auch über das sprechen, worüber man nicht schweigen kann. Das geschieht im Gottesdienst in der Doxologie.“