Archiv für den Monat Januar 2023

Brot-Botschafter

Dieses Jahr habe ich mich als „Brot-Botschafter“ gemeldet. Das sind Leute, die die Arbeit von BROT FÜR DIE WELT hierzulande unterstützen. Ich denke, meine frühere Arbeit als Studienleiter für Ökumene und Entwicklung ist eine gute Voraussetzung.

https://www.brot-fuer-die-welt.de

Mein erster Schritt war die Teilnahme am gestrigen „Ökumenischen Strategietag“ in Baden-Württemberg, der im „Haus der Kirche“ in Stuttgart mit reichlich Prominenz (Domkapitular, Prälatin etc. stattfand. Am meisten hat mich jedoch Markus Wolter überzeugt, Referent für Landwirtschaft und Ernährung bei MISEREOR.  Er diskutierte mit dem Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Landwirtschaft und Ernährung Herrmann Färber (CDU). Dazu kam der Abteilungsleiter Migration und Internationale Diakonie im Diakonischen Werk Württemberg Matthias Rose. Er ist übrigens auch für die „Brot-Botschafter“ zuständig. Seine Abteilung versorgt uns mit aktuellen Informationen.

Markus Wolter führte sinngemäß aus:

Vom Acker, über die Verarbeitung, den Handel, bis auf die Teller wird das Menschenrecht auf Nahrung weltweit vielfach missachtet. Bisherige Versuche, die globalen Ernährungssysteme krisenfester zu machen, sind weitestgehend gescheitert. Die derzeitigen Krisen verlangen nach einer ganzheitlichen Lösung, bei der Landwirtschaft, Verarbeitung, Vermarktung und politische Rahmenbedingungen zusammengedacht werden. Was wir stattdessen bislang beobachten, sind vielerorts Maßnahmen, die ein Problem durch ein anderes ersetzen. Dazu gehört zum Beispiel das Setzen auf Kunstdünger in einigen afrikanischen Ländern. Die internationale Agrarpolitik muss sich konsistent an den Prinzipien der Agrarökologie orientieren und diese unterstützen. Die Agrarökologie ist eine Alternative zur intensiven, chemiebasierten Landwirtschaft, umfasst die vier Bereiche Ökonomie, Ökologie, Politik und Kultur und setzt auf dezentrale und lokal angepasste Lösungen. Gleichzeitig müssen gegenläufige Förderungen wie klimaschädliche Subventionen endlich eingestellt werden. Dazu gehört in Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern, die Beimischungsquote für Biosprit sofort auszusetzen und auf eine Tierhaltung, die flächengebunden ist, umzustellen.   Klimakrise, Artensterben, Naturzerstörung und die Auswirkungen der Corona-Pandemie: Wir erleben derzeit ein Zusammenspiel verschiedener Krisen, die sich dramatisch auf die weltweite Ernährungslage auswirken und den Hunger immer weiter ansteigen lassen. Hinzukommen die Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche die Situation weiter verschärfen. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) leiden 345 Millionen Menschen akut Hunger. Bis zu 828 Millionen sind laut der UN-Welternährungsorganisation (FAO) von Ernährungsunsicherheit betroffen (Stand: Juli 2022). Es wird immer deutlicher, dass die weltweiten Ernährungssysteme in ihrer jetzigen Form nicht so funktionieren, um alle derzeit acht Milliarden Menschen nicht nur satt zu machen, sondern eine ausgewogene Ernährung zu sichern.

Der Tag begann mit einer Zuschaltung von Siju Varghese SJ, Leiter des Social Centre Ahmednagar    /Indien. Es ist ermutigend, was die Menschen dort leisten, die vom Klimawandel direkt betroffen sind.

In weiteren Arbeitsgruppe ging es u.a.um Solidarische Landwirtschaft und Ökofaire Beschaffung. Man stellt ja immer wieder fest, dass viele Menschen gesündere Lebensmittel wollen, aber beim Einkauf doch nur auf den billigen Preis achten.

In meiner Arbeitsgruppe „Krieg und Hunger“ ging es um die Folgen des russischen Krieges in der Ukraine. Hier engagiert sich besonders die katholische Friedensorganisation Pax Christi.

Überhaupt waren viele katholische Gruppen vertreten, die mir einmal mehr einen positiven Blick auf die große Weltkirche ermöglichten. Es ist ärgerlich, wenn in den Medien immer nur die (zu kritisierenden) Skandale ausgebreitet werden.

OFFENE KIRCHE kritisiert Waffenexporte

Die Evangelische Kirche ist demokratisch organisiert. Aber Kirchenpolitik ist nicht sehr populär. Erst wenn wieder eine wichtige Einrichtung geschlossen werden soll und eigene Interessen betroffen sind, wachen die Leute auf. Dann ist es aber meistens zu spät.

Die württembergische Vereinigung OFFENE KIRCHE (OK) bemüht sich in verschiedenen Gesprächskreisen um die weitere Entwicklung der Demokratie in Kirche und Gesellschaft.

Vgl. http://www.offene-kirche.de.

Gestern traf sich die Ortsgruppe des Kirchenbezirks Tübingen zur Jahresversammlung, wählte einen neuen Leitungskreis und besprach künftige Aktivitäten. Mich interessierte besonders der TOP 3: „Aussprache und ggf. Verabschiedung eines Briefes an die Mitglieder des Bundestages aus dem Wahlkreis Tübingen zu den Eckpunkten eines Rüstungsexportkontrollgesetzes.“ Worum geht es?

Die OFFENE KIRCHE Tübingen beschäftigt sich schon seit längerem mit dem Rüstungs- und Waffenexport. Die OFFENE KIRCHE Württemberg (wie auch die Evangelische Landeskirche Württemberg) ist seit vielen Jahren Mitglied und Unterstützer der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“. Auf diesem Hintergrund hat es uns gefreut, dass das Thema Rüstungsexportkontrolle im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung seinen Platz gefunden hat. Inzwischen wurden die Eckpunkte für das Rüstungsexportkontrollgesetz veröffentlicht. Zu unserem großen Bedauern bleiben die Eckpunkte, trotz guter Ansätze, in einigen Bereichen weit hinter dem zurück, was wir für notwendig halten. Verschiedene Friedensgruppen fordern darum folgende Veränderungen im Gesetzentwurf:

· Es wird ein Verbandsklagerecht eingeführt. · Die rechtliche Unterscheidung von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wird aufgehoben, wodurch auch sonstige Rüstungsgüter dem grundsätzlichen Exportverbot, wie es für Kriegswaffen gilt, unterliegen. · Die Prüfkriterien gelten für alle Empfängerländer gleichermaßen. Die Privilegien für EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Staaten im Genehmigungsverfahren werden abgeschafft. Eine gesetzliche Befugnis zur Ausweitung der NATO-gleichgestellten Staaten wird nicht geschaffen. · Bei Verstößen gegen die Kriterien – nicht nur das Menschenrechtskriterium – können Ausfuhrgenehmigungen unabhängig von der konkreten Verwendung des Rüstungsgutes abgelehnt werden. · Es wird ein Exportverbot von Kleinwaffen und leichten Waffen, dazugehöriger Munition, Teilen und Komponenten nach UN-Definition sowie Lizenzen, Software und Technologie (Herstellungsausrüstung) festgeschrieben. · Es wird eine Genehmigungspflicht eingeführt für die technische Unterstützung, Gründung von Tochterunternehmen im Ausland, Gründung von Gemeinschaftsunternehmen im Ausland/Joint Venture oder den Erwerb von Firmenanteilen im Ausland zum Zweck der Herstellung und dem Inverkehrbringen von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. · Ausnahmen von dem Exportverbot in ein Land, das in einen zwischenstaatlichen Konflikt verwickelt ist, können nur dann möglich sein, wenn gemäß Art. 51 der UN-Charta das Recht auf Selbstverteidigung ausgeübt wird. Die völkerrechtswidrige Androhung von Gewalt wird nicht als neuer Ausnahmetatbestand eingeführt. · Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern werden schriftlich und öffentlich begründet. · Die Nebenklagefähigkeit für die Opfer illegaler deutscher Rüstungsexporte wird eingeführt. · Die Sorgfaltspflicht von Rüstungsunternehmen, die Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu gewährleisten, wird verankert. · Die Veto-Möglichkeit bei Gemeinschaftsprojekten bleibt erhalten.

https://aufschrei-waffenhandel.de/

Realpazifismus

Franz At, eine wichtige Persönlichkeit der Friedensbewegung, hat sich gestern in einer ZDF-Sendung klar für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Seine Position nennt er „Realpazifismus“. Damit unterscheidet er sich von prinzipiellem Pazifisten, die unabhängig von politischen Erwägungen in jedem Fall militärische Gewalt ablehnen. Leider kommen solche Menschen öffentlich so wenig zu Wort wie politische Gegner einer deutschen Beteiligung am Krieg in der Ukraine.

https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner/franz-alt-es-wird-zu-wenig-ueber-frieden-gesprochen-maybrit-illner-26-januar-2023-100.html

Die allgemeine gesellschaftliche Debatte spiegelt sich auch in den kirchlichen Diskussionen. Vertreter der traditionellen lutherischen „Zwei-Reiche-Lehre“ wehren sich grundsätzlich gegen kirchliche Einflussnahmen auf politische Entscheidungen. Sie unterstützen faktisch in der Regel Positionen der Mehrheit. Dagegen streiten die Vertreter einer „öffentlichen Theologie“, die meinen, man könne vom Evangelium her eindeutige Positionen in die Debatten einbringen.

Ich selber habe ähnlich wie Franz Alt schon vor Monaten geschrieben, dass „Putin meinen Pazifismus zerstört“ hat, ich aber gleichwohl weiter für den Frieden eintreten möchte. Deswegen mache ich mir nicht alle Forderungen der ukrainischen Regierung zu eigen, schon gar nicht die feindselige Sprache gegen Russland. Mir sind die Gefahren einer weiterenn Eskalation bewusst. Ich verhehle auch nicht meine Skepsis gegen die USA und die NATO, die genügend illegale Kriege verbrochen haben. Gleichwohl ist für mich in dieser Auseinandersetzung klar, dass die gegenwärtige Regierung der russischen Föderation nicht nur die eigene Bevölkerung unterdrückt, sondern auch willkürlich einen Angriffskrieg gegen eine (auch von Russland) in ihren Grenzen anerkannte Nation begonnen hat. Wer beispielsweise von „Putins Netz“ von Catherine Belton gelesen hat, kann sich über den Charakter dieser Regierung keine Illusionen mehr machen. (Untertitel: Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste.) Hier gilt die Erkenntnis des Kirchenvaters Augustinus „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine Räuberbande.“

Nun denke ich allerdings, es ist nicht meine Aufgabe als Pfarrer, aggressive Kriegspredigten zu halten. Eine Aufgabe sehe ich darin, den Konflikt noch besser zu verstehen. Z.B. auch einmal aus russischer Perspektive. Bücher aller Art gibt es zu diesem Thema schließlich genug.

Vor allem aber denke ich, es ist Christenpflicht, den geschundenen Menschen zu helfen. Auch dazugibt es viele Angebote.

Ich habe mich in der Vergangenheit für das evangelische „Gustav-Adolf-Werk“ (GAW) engagiert.

Zu Beginn des Krieges war es schwer, Lebensmittel in der Ukraine zu kaufen. Viele Lieferketten waren zusammengebrochen. Pfarrer Alexander Gross aus Odessa berichtet aus dieser Zeit: „Der Raketenbeschuss und die ständigen Luftalarme haben den Menschen große Angst gemacht. Der Krieg, der sich unserem Gebiet näherte, sorgte für Panik, Chaos und eine große Zahl von Flüchtlingen. Lebensmittel, Fleischkonserven und tonnenweise Kartoffeln, die wir in Moldawien kaufen konnten, waren eine große Hilfe für die Menschen. Wir haben viele Menschen in unserer Region mit unverzichtbaren Hilfsgütern versorgt. Und wir haben nie aufgehört, in unserer Suppenküche für Bedürftige zu kochen und das Essen auszuliefern.“

 Am 29.03.2022 haben wir den ersten Hilfstransport für die Ukraine organisiert. Im Laufe des Jahres folgten 14 weitere 40-Tonnen-Sattelschlepper vor allem mit haltbaren Lebensmitteln, Medikamenten und orthopädischer Ausrüstung. Aber auch mehrere Tonnen Saatkartoffeln sowie Saatmais wurden zur reformierten Kirche in Transkarpatien, dem westlichsten Teil der Ukraine, geliefert. Die Kirche versorgt selbst viele Binnenflüchtlinge in ihren Gebäuden und unterstützt die Bevölkerung, die privat Geflüchtete aufgenommen haben. Was nicht vor Ort gebraucht wird, transportieren kirchliche Helfer in die jeweils akuten Kriegsregionen. Insgesamt konnten mit diesen Hilfstransporten gekaufte und gespendete Waren im Wert von ca. 625.000,- € den Menschen in der Ukraine zur Verfügung gestellt werden.

Mit Beginn des Winters und den andauernden Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur baten uns unsere Partner in der Ukraine vor allem um Stromgeneratoren. Selbst wenn es Strom gab, dann manchmal nur für 1-2 Stunden am Tag. Und ohne Strom funktionieren oftmals auch keine Wasserpumpen und Gasheizungen. Insgesamt 45 kleinere und größere Generatoren konnten wir kaufen und in die Ukraine transportieren. Sie versorgen nun diakonische Einrichtungen, evangelische Schulen und Gemeindehäuser und kommen auch bei ausgewählten Familien mit kleinen Kindern zum Einsatz. Krisztina Badó, Mitarbeiterin der Reformierten Kirche in Transkarpatien, schreibt: „Die Generatoren werden sehr gebraucht. Ihr seid alle wirklich großartige Menschen und Freunde!“

Vielen Dank an dieser Stelle daher noch einmal für Ihre Spende. Auf unserer Homepage www.gaw-wue.de informieren wir auch weiterhin über die von uns unterstützten Projekte. Wir gehen leider davon aus, dass die Menschen in der Ukraine noch eine längere Zeit auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen sein werden. Wir sind in engem Kontakt mit unseren Partnerkirchen, damit auch zukünftig die Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird.

 Einladung zur Veranstaltung „Hoffnung für die Ukraine“

am Mittwoch, 1. Februar 2023

um 18.00 Uhr im Hospitalhof Stuttgart

Ist Gott demokratisch?

Zum Verhältnis von Demokratie und Religion hat der emeritierte Philosoph Otfried Höffe ein Buch geschrieben, das in einem der größten Säle Tübingen diskutiert werden sollte. Da sich nur sechs Interessenten vorangemeldet hatten, wurde die Veranstaltung abgesagt. Schade, denn zur Vorbereitung hatte ich das Buch studiert.

Es ist intelligenter als der dämliche Titel „Ist Gott demokratisch?“ (Hirzel Verlag 2022) vermuten lässt. Der hat prompt einen antiklerikalen Leserbriefschreiber zu einer weiteren Attacke auf die Kirchen motiviert.

Das Buch beschreibt zunächst die „Säkulare Antike“ und weitere philosophische Entwürfe zum Thema Religion und Politik. Die meisten verzichten wie schon Aristoteles auf Religion und Theologie für ihre Theorien des Politischen. Das ist lehrreich zu lesen, obwohl jedes Philosophielexikon ähnliche Einsichten bietet.  Nicht ganz klar ist, warum der Autor auch noch nach China (Konfuzianismus, Daoismus) schaut. Wobei der „Honorary Professor“ an der Tsinghua Universität Peking und HUST-University Wuhan wenigstens kurz erklären sollte, warum es in der Volksrepublik mehr Christen als Mitglieder der Kommunistischen Partei gibt. Zum Thema „Gott“ trägt es jedenfalls nichts bei.

Problematisch ist schon sein Grundverständnis: „Die Demokratie ist, freilich in Grenzen, für das weltliche Wohlergehen, die Religion für die ewige Glückseligkeit verantwortlich.“ S.9

Schaut man auf konkrete Religionen wie Judentum, Christentum, Islam wird man mehr Texte zur Weltbewältigung finden als Anweisungen für Himmelfahrten. Das gilt sogar für östliche Religionen wie den Buddhismus, der zwar eine skeptische Haltung zur Welt empfiehlt, aber dennoch die je eigene Gesellschaft politisch wirksam gestaltet hat.

Unter „neueren Verteidigern der Religion“ behandelt er Sören Kierkegaard, William James, Niklas Luhmann, Charles Taylor und Hans Jonas. Die Titelfrage kann natürlich auch von diesen nicht sinnvoll beantwortet werden. Allenfalls kann man beschreiben, welche Gottesbilder einen Beitrag zur Demokratie leisten und welche nicht.

Im Zweiten Teil „Zeitgenössische Probleme“ verlässt der Philosoph erkennbar seinen Forschungsbereich. Man hat das Gefühl, er präsentiert uns unsystematisch ein Allerlei aus seinem Zettelkasten. Da geht es etwa um Redensarten, kulturelle Bräuche, Kirchenasyl oder das Religionsverfassungsrecht. Schreibt er über „Gefahren seitens der Religionen“, ist es ganz geschickt, den Islam einzubeziehen. Da finden sich genügend aktuelle Beispiele aus aller Welt für „Gewaltbereitschaft“ der Religion.

Als evangelischer Pfarrer interessieren mich natürlich seine Beobachtungen zum Protestantismus. Ihm widmet er sogar einen zweiseitigen (!) Exkurs „Demokratieunfähigkeit im deutschen Protestantismus?“ Dünner geht es ja kaum. Sein Beleg ist ein einziger FAZ-Artikel.

Nun kann man lange räsonieren, wie schwierig es für die evangelischen Kirchen in Deutschland war, sich von der überkommenen „Thron und Altar-Tradition“ zu lösen. Aber schon kirchliche Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann oder Martin Niemöller haben nach 1945 kräftig für einen Neuanfang gesorgt. Einrichtungen wie Evangelische Akademien oder der Kirchentag wurden zur Demokratieförderung (!) eingerichtet. Manche gesellschaftlichen Konflikte wurden in kirchlichen Kreisen diskutiert bevor sich die Parteien daran wagten. Man erinnere sich nur an die berühmte „Ost-Denkschrift“ der EKD von 1965 „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“, die eine neue Ost-Politik der BRD ermöglichte. Die westdeutsche Friedens- und Umweltbewegung ist ohne das Engagement evangelischer Jugend- und Studentengruppen nicht denkbar. Den Beitrag der ostdeutschen Kirchen zur Überwindung des SED-Regimes wäre auch wenigstens eine Bemerkung wert gewesen. Sie hatten nämlich in ihren Gremien und Kirchengemeinderäten Demokratie eingeübt.

Rainer Eppelmann war ein widerständiger Pfarrer und Politiker. Legendär sind seine Ost-Berliner Blues-Gottesdienste in den 1980er Jahren, mit denen er Jugendliche begeisterte und in der DDR kirchliche Freiräume schuf: Kirche als Schule der Demokratie. Als Bürgerrechtler gestaltete er die Friedliche Revolution mit. Als letzter Verteidigungsminister der DDR leistete er einen großen Beitrag zur Abrüstung. Nach der Wiedervereinigung zog er in den Bundestag ein. Heute setzt er sich für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts ein.

Vielleicht erklärt ein Blick ins Literaturverzeichnis das Manko dieses Buches. Es findet sich mit einer Ausnahme kein evangelischer Theologe. Nicht einmal Martin Luther mit seiner wichtigen „Zwei-Reiche-Lehre“ und seinen einflussreichen politischen Schriften ( z.B. „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ von 1520) wird erwähnt. In meiner Schulzeit war das im Lehrplan des Religionsunterrichts.

Wozu haben wir eine Universität Tübingen, wenn Professoren nicht einmal zur Kenntnis nehmen, was andere Mitglieder dieser Universität wie Hans Küng oder Jürgen Moltmann zur theologischen Begründung der Demokratie veröffentlicht haben?

Mein Deutschlehrer hätte bei einem solchen Aufsatz drunter geschrieben: „Thema verfehlt.“

Im Schatten des Kreml

Seit der Machtübernahme Putins 1999 hat Udo Lielischkies für die ARD aus Russland berichtet. In seinem Buch „Im Schatten des Kreml“ erzählt er von seinen Reportagen in den Provinzen Russlands über Moskau hinaus. Wenn man das Buch – erstmals erschienen 2019 – heute liest, fragt man sich, warum immer noch so viele Fehleinschätzungen grassieren.

Die meisten Journalisten begnügen sich mit Moskau, kennen weder die Sprache noch die Geschichte Russlands. Auch Lielischkies beschreibt seine anfänglichen Schwierigkeiten und gibt auch manche Irrtümer zu. Auch er braucht eine Zeit, um das gegenwärtige Russland zu verstehen – und nimmt seine Leser auf diese Bildungsreise mit.

Lielischkies bezeichnet Moskau als ein vom Rest des Landes abgekoppeltes Raumschiff, als glitzerndes filmreifes Panoptikum neureicher Selbstdarstellung. „Das Zentrum ist Russlands Disneyland für das opulente Leben einer kleinen Elite, das vom System Putin profitiert.“ Das reale Russland ist eher verkommen und vergessen. „Ein riesiges Land, das den Preis bezahlt für das Leben einer kleinen, sehr reichen, sehr zynischen Elite.“

Wie in einem Crashkurs erleben wir nach, wie Putin und seine Freunde vom Geheimdienst sich Jahr für Jahr mehr Macht erobert haben. Erst wurden die Medien ausgeschaltet, dann die lukrativen Konzerne unter Gesinnungsgenossen aufgeteilt, die unabhängige Justiz kaltgestellt und schließlich jegliche Opposition unterdrückt. Die reichen Einkommen werden ins Ausland verschoben und das Volk mit Versprechungen abgespeist. Wäre es nicht so traurig, könnte man sagen: Das sind spannende Krimis.

In Russland grassiert Armut: Fast 19 Millionen Menschen müssen von 150 Euro im Monat leben. Laut der Statistikbehörde „Rossta“ haben 29 Millionen Russen überhaupt kein fließendes Wasser und 22 Millionen keine Heizung. „Putin macht Medwedew zum Prügelknaben, legt ihm alles zur Last. Die Unzufriedenheit ist gewaltig. Das hat den Kreml sehr nervös gemacht. Es werden aber nur die Kulissen geschoben. Putin ist ein ausgebuffter Machtpolitiker.“

Wer seinen Aufstieg beobachtet, hat keine Illusionen mehr, wie man mit einem Machtpolitiker umgehen soll, der seine Ziele ohne Rücksicht auf Verluste erreichen will. Unzählige Gespräche aus ganz verschiedenen Regionen gibt der Autor wieder. Mal sind es Kriegsgebiete in Tschetschenien, die man schon wieder vergessen hat oder aktuell die Ukraine, deren langsame Demokratisierung er nachzeichnet.

Mich hat insbesondere der Bericht aus Karelien interessiert, da ich in den 90iger Jahren dort gereist bin. Es ist allerdings ein trauriges Wiedersehen, da die Korruption dort zu Lasten der Armen alle Rekorde schlägt. Wohl sieht man mit eigenen Augen das Elend dort, aber natürlich nicht die Gründe. Wer weiß schon beim Anblick der verfallenen Häuser, in wessen Taschen die Rubel zum Wiederaufbau geflossen sind. Nicht einmal sauberes Trinkwasser gibt es heutzutage: „89% der Abwässer gelangen nicht oder ungenügend gereinigt wieder in den Wasserkreislauf. Eine Untersuchung zur ökologischen Sicherheit des Landes konstatiert, dass 30 bis 40 % der russischen Bevölkerung regelmäßig Wasser nutzen, das nicht den hygienischen Normen entspricht. Das koste durchschnittlich 11000 Menschen pro Jahr das Leben, drei Millionen würden krank.“ S.361

Lielischkies spricht mit einem Bürgermeister über die massenhafte Wohnungsnot, warum Menschen in Abbruchhäusern ohne Fenster, Türen oder irgendeine Heizung vegetieren müssen. Er verspricht Abhilfe bis 2044(!). Kein Wunder, dass sich verzweifelte Menschen wie in vergangenen Jahrhunderten mit Bittschriften an den Zaren in Moskau wenden. Putin verspricht in jährlichen Fernsehkonferenzen gönnerhaft Abhilfe. Aber es tut sich nichts. Der Präsident braucht das Geld für Rüstung und Propaganda seiner Staatsmedien.

Angesichts der massenhaften russischen Propaganda und Geheimdiensttätigkeit im Westen ist die sorgfältige Lektüre dieses 463-Seiten-Buches hilfreich. https://de.wikipedia.org/wiki/Udo_Lielischkies

Noch eine Bemerkung des Autors zur sogenannten NATO-Osterweiterung, die immer wieder zur Entschuldigung des russischen Angriffs zitiert wird.  Aus dem aktualisierten Nachwort: „Wie absurd diese Mär vom bedrohten Russland ist, zeigt eine Pressekonferenz 2004 in Ljubljana, kurz nachdem die baltischen Staaten Mitglieder der NATO geworden waren. Wladimir Putin lobte die gute Entwicklung der Beziehungen zwischen NATO und Russland und sagte wörtlich: „Bezüglich der NATO- Erweiterung haben wir keine Bedenken, was die Sicherheit der Russischen Föderation angeht.“ Kein Wort von einem gebrochenen Versprechen. Und nach 2004 traten nur noch Staaten aus dem südlichen Europa dem Bündnis bei, keine Nachbarn Russlands. Der gefährliche, aggressive Westen ist eine spätere Erfindung Moskaus, nach den Massenprotesten gegen Putin.“ S.446

Heute lese ich in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem bekannten Osteuropahistoriker Karl Schlögel, den ich kürzlich in der Universität Tübingen gehört habe. Er meint, dass „Putinismus“ sich aus vielen historischen Wurzeln speist:

„Sich mit dem Faschismus und Nationalsozialismus im Hinblick auf das russische System zu beschäftigen, ist lehrreich, aber Analogien sind nicht ganz passend, weil man es mit etwas Spezifischem und Neuem zu tun hat, für das man die Begriffe noch finden muss. Es ist auffällig, dass in dieser Diskussion die russisch-sowjetisch-stalinistische Linie, das spezifisch russische Erbe nicht auftaucht. Aber wie kann das für ein postsowjetisches Russland ausgeblendet werden? Der Putinismus bedient sich aus einem eigenständigen historischen Fundus. Wohlbekannte Praktiken werden reaktiviert: Schauprozesse, erzwungene Selbstkritik, gezielte Tötungen, Entfesselung von Denunziation gegen ‚Volksfeinde‘ und ‚ausländische Agenten‘, Folter und das Lagersystem. Selbst die Mobilisierung lief nach alten Mustern. Massendeportationen, Umsiedlung, was die Nazis einmal ‚Umvolkung‘ genannt haben.“