Ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht, ist immer wieder eine Streitfrage gegenwärtiger Politik. Abgesehen von den aktuellen politischen Interessen der Kontrahenten hängt eine Antwort wohl davon ab, wen man fragt. Ob Gewinner oder Verlierer des sozialistischen Staats, Profiteure oder Opfer.
Kürzlich hatte ich tagelang die Gelegenheit, eine typische DDR-Biografie mir anzuhören. Mit mir lag im Krankenhauszimmer ein inzwischen gut etablierter Ingenieur der Firma Bosch, der aus Sachsen-Anhalt stammt. Immer wieder betonte er, dass er als armer Bauernsohn seinen Aufstieg dem DDR-Staat verdankt. Der habe ihn schulisch gefördert und über einen Betrieb das Studium bezahlt. Zwar musste er erhebliche Anpassungsleistungen vollbringen: u.a. der SED beitreten („die monatlichen Treffen habe ich abgesessen“), den Grenzdienst der Volksarmee leisten („auf den Wachttürmen war es bitter kalt“). Mit Glück kam er um eine Verpflichtung durch die Stasi herum. Dank der friedlichen Revolution, an der er sich nicht beteiligt hat, ist er nun ein Gewinner der „Wende“. Unrecht hat er in der DDR nicht erlitten. Zurück in sozialistische Verhältnisse will er aber nicht.
Zur gleichen Zeit lese ich das Buch „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Stuttgart 2019) ) von Ines Geipel. Die ehemalige Weltklasse-Leichtathletin ist vor allem durch ihre Aufarbeitung des Staatsdoping der DDR bekannt geworden. Wie nahezu 12000 Sportler in der DDR, viele ohne es zu wissen, war Geipel Opfer des organisierten Dopings. Nachdem sie in „Ungnade“ gefallen war, wurde ihr bei einer Blinddarmoperation 1984 im Stasi-Auftrag der gesamte Bauch samt Muskulatur durchschnitten. Im Jahr 2000 erreichte sie mit die Verurteilung des DDR-Sportfunktionärs Manfred Ewald wegen Beihilfe zur Körperverletzung.
Erst spät erfuhr sie, dass ihr eigener Vater unter acht verschiedenen Identitäten im Auftrag der Stasi als „Terroragent“ 15 Jahre lang in Westdeutschland im Einsatz war. Er versuchte insbesondere geflüchteten DDR-Bürgern deren neue Existenz in der Bundesrepublik zu zerstören.
Im Jahr 2019 sagte sie zur nicht begonnenen Aufarbeitung der Geschichte der DDR, dass Geld alleine den Osten Deutschlands nicht demokratischer machen werde. Sie sagte, es sei „unglaublich, mit welcher Härte die wirklichen Opfer der zweiten Diktatur weg erzählt werden.“ Fünfzig Jahre Diktaturerfahrung hätten eine traumatisierte Kultur hinterlassen.
In ihrem Buch „Umkämpfte Zone…“ greift Geipel das für die DDR-Geschichte so signifikante Thema des Verschweigens aus der Sicht mehrerer Generationen auf. Dabei bricht sie zum einen das „toxische Schweigen“ auf, mit dem nicht nur die SS-Vergangenheit ihrer beiden Großväter, sondern auch die Stasi-Tätigkeit des Vaters verhüllt wurde.
Aus dem Klappentext: „Seit 2015 haben sich die politischen Koordinaten unseres Landes stark verändert – insbesondere im Osten Deutschlands. Was hat die breite Zustimmung zu Pegida, AfD und rechtsextremem Gedankengut möglich gemacht? Ines Geipel folgt den politischen Mythenbildungen des neu gegründeten DDR-Staates, seinen Schweigegeboten, Lügen und seinem Angstsystem, das alles ideologisch Unpassende harsch attackierte. Seriöse Vergangenheitsbewältigung konnte unter diesen Umständen nicht stattfinden. Vielmehr wurde eine gezielte Vergessenspolitik wirksam, die sich auch in den Familien spiegelte – paradigmatisch sichtbar in der Familiengeschichte der Autorin. Gemeinsam mit ihrem Bruder, den sie in seinen letzten Lebenswochen begleitete, steigt Ines Geipel in die „Krypta der Familie“ hinab. Verdrängtes und Verleugnetes in der Familie korrespondiert mit dem kollektiven Gedächtnisverlust. Die Spuren führen zu unserer nationalen Krise in Deutschland.“
Spannend finde ich, wie Geipel den Aufbau des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR am Beispiel Buchenwald beschreibt. Da lernen Generationen die Geschichte der heldenhaft verklärten Kommunisten im KZ, welches durch den in der DDR zensierten und seiner Ambivalenzen beraubten Bestseller von Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“ verstärkt worden ist. Die Nazis waren in der DDR-Propaganda einfach im Westen. Geipel beschreibt die jahrelange Schuldverdrängung, wie antisemitische Übergriffe und Straftaten einer „Skinhead-Kultur“ ignoriert wurden. Geipel: „Ich versuche exemplarisch an einer konkreten Familie zu zeigen, wie sich Zeit und Leben, Gefühle, Situationen verzahnen, und hier ganz explizit, wenn es um die lange Linie der Gewalt im Osten geht, geht es natürlich um Kontinuitäten. Es ist die Sache der nicht verarbeiteten Doppeldiktaturen.“
Ein Kritiker schrieb: „Das Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ von Ines Geipel vereint Elemente eines Generationenromans und Romans über die DDR mit Elementen der Autobiographie und des Sachbuchs. Es besticht durch eine bilderreich-künstlerische, poetische Sprachgewalt und geisteswissenschaftliche Reflexionen.“
Ob nun „Unrechtsstaat“ oder nicht – das dargestellte Unrecht erschüttert allemal.