Die Evangelische Kirche begeht seit langem am 10. Sonntag nach dem Fest der Dreieinigkeit (Trinitatis) ihren „Israel-Sonntag“. Nicht alle Prediger nehmen das Thema „Israel“ auf, kann man sich doch damit auch in der Kirche viel Ärger einhandeln. Denn kaum einer denkt an den biblischen Begriff „Israel“, sondern aufgrund der Nachrichtenlage natürlich an den heutigen Staat Israel. Trennen kann man das nicht, wohl aber unterscheiden.
Prof. Dr. Klaus Müller ist Vorsitzender der Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise „Christen und Juden“ im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er schreibt u.a.:
„Die Gottesdienste am 20. August werden geprägt sein vom Herzstück biblischer Israeltheologie, die die Unverbrüchlichkeit des Bandes zwischen Gott und seinem Volk bezeugt. Ob in der Sprache der Psalmen: „Der Herr gedenkt ewiglich an seinen Bund, den er geschlossen hat für tausend Geschlechter, an den Bund, den er geschlossen hat mit Abraham. Und an den Eid, den er Isaak geschworen hat (Ps. 105,8-9). Oder in der Sprache des Apostels Paulus: „Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ (Römer 11,29). Allemal Aufforderung genug um abzulassen von den alten Lehren der Enterbung und der Ersetzung des einen Gottesvolkes durch ein anderes.
Am Israelsonntag 2017 jähren sich eine Reihe von Daten, deren Zusammenschau zu denken gibt: 1917 sagte die Kolonialmacht England in der sog. „Balfour-Deklaration“ den Vertretern der Juden in Europa die Unterstützung im Aufbau einer nationalen Heimstätte in Palästina zu; der UN-Teilungsbeschluss 1947 sah im Mandatsgebiet Palästina die Bildung eines jüdischen und eines arabischen Staates vor; vor nun 50 Jahren eroberte die israelische Armee im Sechstagekrieg 1967 das Westjordanland, den Gazastreifen, den Sinai und die Golanhöhen – und 2017? Zeit, diese schwierigen Daten konstruktiv-kritisch „zusammenzudenken“.
Israel ringt um seine Zukunft als demokratischer und jüdischer Staat inmitten eines palästinensischen Volkes, das seine Selbstbestimmung einfordert. Politische Lösungen sind Sache fairer Verhandlungen – sie stehen nicht in der Bibel geschrieben. Sehr wohl aber geschrieben stehen in der Bibel Grundprinzipien der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens für alle Menschen an allen Orten dieser Erde – allemal Leitlinien für die Suche nach politischen Antworten heute, auch in Nahost.
Apropos 2017: Dieses Jahr birgt selbstverständlich noch eine weitere Herausforderung und Chance – auch für den Gottesdienst am Israelsonntag. Der 20. August im Jahr des Reformationsjubiläums ist eine überfällige Gelegenheit für die Kirche und ihre Verkündigung, sich von den letzten Resten eines Antijudaismus loszusagen, der das geliebte Eigene auf Kosten eines schwarzgemalten Anderen zum Ausdruck zu bringen sucht. Im Klartext: Das Evangelium hat es nicht nötig – anders als Martin Luther es meinte – vor der dunklen Folie eines angeblich gesetzesverhafteten Judentums zum Leuchten gebracht zu werden.
Die Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) formulierte in ihrem Zwischenruf zur Reformationsdekade:
„Zeitlebens schöpfend aus den Worten der Hebräischen Bibel konnte Luther doch zu keiner Zeit eine aus dieser Schrift lebende jüdische Glaubens- und Lebensweise positiv in seiner Theologie denken. In den Psalmen fand er seine reformatorischen Grundgedanken wieder – dem real lebenden Volk der Psalmen konnte er aber zu keiner Zeit einen theologischen Wert zuschreiben. Statt eines unverstellten Wahrnehmens jüdischer Menschen und ihrer Glaubenswelt folgte der Reformator einem kursierenden Halbwissen aus zweiter Hand. Ein einziges Mitvollziehen synagogaler Liturgie an den Hohen Feiertagen zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur hätte dem Prediger der unverdienten Gnade Gottes die antijüdische Binde von den Augen nehmen können: “ Unser Vater, unser König, sei uns gnädig und erhöre uns, denn wir haben keine Werke vorzuweisen! Übe an uns Gerechtigkeit und Gnade und errette uns!“ So betet die Synagogengemeinde seit Jahrhunderten überall auf der Welt. Stattdessen blieb für Luther das Judentum die personifizierte Selbstgerechtigkeit und buchstäbliche Gotteslästerung.“
Diese Analyse gibt allen Anlass zu kirchlicher Selbstkritik, zu Buße und zum Neuanfang – der ersten der 95 Thesen Luthers durchaus gemäß. Die Synode der EKD zeigt sich in ihren beiden Kundgebungen 2015 und 2016 in einer erstaunlichen Klarheit dieser Überzeugung verpflichtet.
Reformationsjubiläum 2017. Übrigens steckt im Wort „Jubiläum“ das hebräische jovel, welches wie der Ausdruck Schofar das Widderhorn bezeichnet, das zur Umkehr und zur Abkehr von alten Fehlentwicklungen ruft. In diesem Sinne kann und soll sich die reformatorische Kirche gerade am Israelsonntag 2017 als eine ecclesia semper reformanda (immer zu reformierende Kirche) zeigen. Stimmen wir auch in diesem Jahr mit ein in die Friedensbitte der Psalmen: „Sh’alu Shlom Jerushalajim“ – „Bittet um Frieden für Jerusalem; es möge wohl gehen denen, die dich lieben …!“
Unsere Predigten leiden heute unter langweiligen „Allgemeinheiten“. Deswegen würde ich einen aktuellen Konflikt ansprechen, und zwar den Israel-Boykott von BDS, wie er sich jüngst in Berlin an einem Pop-Festival entzündet hat:
Die israelische Sängerin Riff Cohen, deretwegen die BDS-Kampagne zum Boykott des Festivals Pop-Kultur aufrufen hat, hat selbst, wie Jan Kedves in der Süddeutschen Zeitung schreibt, arabische Wurzeln, ihr Vater ist tunesisch-jüdischer, ihre Mutter algerisch-französisch-jüdischer Abstammung: „Es gibt viele Kooperationen von Künstlern, die politisch Gegner sein könnten, aber in der Kunst zusammenfinden. So hätte es auch in Berlin sein können. Bis die Boykott-Agitatoren mit ihren Lügen alles zerstörten… Die BDS-Kampagne hat auf ihrer Website inzwischen die Behauptung zurückgezogen, das Festival sei von Israel ‚mitorganisiert‘. ‚But that’s not the point‘, heißt es. Es gehe um Israels Besetzung von Palästina. Doch, genau das ist der Punkt: Eine jüdische Künstlerin wird mit der Politik der israelischen Regierung gleichgesetzt. Das trägt Züge von Antisemitismus.“